Ist Dehnungshaltung schädlich?

Ist Dehnungshaltung schädlich?

Wir räumen mit Irrtümern über die Dehnungshaltung auf  

Alle Reiter haben es sicherlich verinnerlicht: Das Pferd muss mehr Last mit der Hinterhand aufnehmen, um die vermeintlich schwache Vorhand zu entlasten und damit vor langfristigen Schäden zu schützen. Man lernt es oft bereits ganz früh in der Reitschule und dieses Credo bestimmt für viele Reiter fast all ihre Bemühungen rund ums (Dressur)Reiten. Diese Reit-Idee ist so verinnerlicht und wird so häufig wiederholt, dass sie fast immer ungefragt übernommen wird. Im Umkehrschluss denken viele Reiter: Das Reiten in Dehnungshaltung – auch als vorwärts-abwärts bezeichnet – ist schädlich, weil es die schwache Vorhand überlastet. Doch was ist da eigentlich dran an? 

Irrtum: Die Dehnungshaltung verschleißt die Vorhand

Ein weit verbreiteter Irrtum besagt, dass die Dehnungshaltung die Vorhand eines Pferdes übermäßig belastet. Dabei trägt jedes Pferd bereits von Natur aus mehr Last auf der Vorhand als auf der Hinterhand. Wenn es sich frei bewegt, kann man dies hervorragend beobachten. Dies ist eine völlig physiologische Gegebenheit, die u.a. am langen Hals des Pferdes und seiner natürlichen Lebensweise liegt. Wenn ein Pferd die Wahl hat, befindet es sich bis zu 16 Stunden am Tag in Fresshaltung, mit gesenktem Hals.

 

Es gibt zwei anatomische Fakten, die zeigen, dass Pferde für eine erhöhte Belastung der Vorhand gebaut sind:

1. Die Vorderhufe sind breiter als die Hinterhufe. Sie sind dafür konstruiert, mehr Gewicht zu tragen. Und jeder, der sich mit Biologie befasst, weiß, dass in der Natur in der Regel die Funktion die Form bestimmt (Form follows Funktion).

2. Am Vorderbein gibt es zwei Unterstützungsbänder für die Beugesehnen. Eines für die oberflächliche und eines für die tiefe Beugesehne. Am Hinterbein gibt es nur ein Unterstützungsband, und zwar für die tiefe Beugesehne.

 

Die Vorteile der Dehnungshaltung

Damit es nicht zu einer Überlastung der Vorderbeine kommt, hat die Natur das Nacken-Rückenband-System entwickelt. Diese kräftige Bandstruktur zieht sich vom Hinterhauptsbein über die Wirbelsäule bis zum Ende des Kreuzbeins. Das Nackenband setzt auch an den Dornfortsätzen jedes Wirbels an. Wenn das Pferd den Hals senkt, kommt es unter Spannung und hält die Brustwirbelsäule hinter dem Widerrist passiv oben. Das alles funktioniert ganz ohne Muskelkraft – einfach durch die passive Spannung des Nacken-Rückenbandes. Eine ziemlich ausgeklügelte Konstruktion, die sich im Laufe von Millionen Jahren entwickelt hat, um dem Pferd seine Lebensweise zu ermöglichen. Vom Nacken-Rückenband haben bestimmt viele schon gehört und kennen dessen Funktion.

Zudem passiert aber noch etwas Spannendes: Wenn sich der Hals senkt, ziehen die Halsanteile des Musculus trapezius und Musculus rhomboideus das Schulterblatt nach vorn und stabilisieren zugleich das Bugelenk, das dann in leicht gewinkelter Stellung steht. Dadurch entfaltet sich der im Brustbereich liegende Teil des Rumpfträgers (Musculus serratus ventralis) besser und kann effizienter arbeiten. Dies macht es für das Pferd viel leichter, sein eigenes und zusätzliches Gewicht, also durch den Reiter, zu tragen.

 

Diese Haltung ist vor allem sinnvoll für:

  • wenig trainierte Pferde
  • Jungpferde
  • Pferde, die z.B. nach Krankheit auftrainiert werden sollen
  • Pferde in der Lösungsphase
  • In den Pausen zwischendurch
  • Zum Cool-Down

Denn diese Haltung ermöglicht es der Muskulatur, sich zu erholen. Dazu sollte mit langem Hals vorwärts-abwärts geritten werden. Alle Pferde sollten sich im Training immer wieder so weit nach unten dehnen dürfen, dass sie in diese passive Tragkraft kommen und ihre Muskulatur dadurch entspannen können.

 

Der Einfluss auf die Psyche

Durch die Bewegung mit gesenktem Kopf passiert beim Pferd noch etwas: Der Parasympathikus wird aktiviert, also der „Entspannungs-Nerv“. Sinkt der Kopf, signalisiert das dem Körper: Jetzt ist Entspannungszeit (Pferde stehen ja auch beim Fressen und Ruhen mit gesenktem Kopf und passiv aufgewölktem Rücken, während im umgekehrten Fall, wenn sie auf der Flucht sind, der Kopf erhoben und der Rücken in der Regel nach unten gedrückt ist). Die Dehnungshaltung hat also einen nicht zu unterschätzenden mentalen Einfluss. Aber: Trotz aller Vorteile, kann auch das schonende Vorwärts-abwärts-Reiten übertrieben werden.

 

Falsch ausgeführt ist auch die Dehnungshaltung schädlich

Die Dehnungshaltung ist also gar nicht so sehr das Problem. Das, was die Vorhand verschleißt, ist ihre falsche Nutzung. Nutzt das Pferd nicht den gesamten Rumpftrageapparat, um die Bewegungsenergie abzufedern, wird es im falschen Tempo geritten oder kommt es umphysiologisch mit den Hufen auf, überlastet es über kurz oder lang die Strukturen in der Vorhand. Diese würde es allerdings auch in (vermeintlicher) Versammlung überlasten, wenn es nicht gelernt hat, sich in korrekter Weise unter dem Reiter zu bewegen. Es ist daher viel wichtiger, wie das Pferd seinen Rumpfheber einsetzt, also wie gut es in der Lage ist, Energie abzufedern, als welche Kopf-Hals-Position es dabei hat.

 

Ist die Dehnungshaltung also das Allheilmittel?

Das Pferd ist dafür konstruiert, von Natur aus mehr Gewicht auf der Vorhand als auf der Hinterhand zu tragen. Die Dehnungshaltung ist eine sehr sinnvolle, energiesparende Haltung.

Dennoch muss das Pferd in einer positiven Grundspannung gehen können. Es darf sich nicht auf den Zügel legen oder einrollen. Gerade sehr bewegliche (oder hypermobile) und von sich aus mit wenig Grund-Körperspannung ausgestattete Pferde tun sich oftmals schwer mit einer richtig guten Dehnungshaltung – obwohl sie gerade ihnen so gut tun würde. Es lohnt sich auf jeden Fall, hier als Reiter die nötige Zeit zu investieren, um gerade mit diesen Pferden eine physiologisch sinnvolle Dehnungshaltung zu erarbeiten, da diese ein ganzes Pferdeleben lang eine wertvolle Bereicherung im täglichen Training ist und so manchen anderen Problemen vorbeugt.

 

In den weiteren Blogbeiträgen werden wir näher auf die Dehnungshaltung eingehen, z.B., darauf, wie tief eigentlich noch gut ist für das Pferd, ob das Reiten am hingegebenen Zügel sinnvoll ist usw…  

 


 

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