In diesem Beitrag widmen wir uns dem Mythos „Gangpferde brauchen einen Sattel mit nach hinten verlagertem Schwerpunkt“.
Wir beleuchten Fragen wie:
- Woher kommt dieser Mythos und wie wird er begründet?
- Was bewirkt ein nach hinten verlagerter Sattel-Schwerpunkt aus biomechanischer Sicht?
- Wieso ist die Vorhandaktion vieler Pferde mit so einem Sattel (trotzdem) gut?
- Was steckt wirklich hinter dieser vermeintlichen Versammlung?
Benötigt ein Gangpferd einen Sattel mit einem anderen Schwerpunkt?
Noch immer gibt es in der Gangpferde-Szene spezielle Sättel, deren Schwerpunkt weiter hinten ist als bei üblichen Sattelmodellen. Vor 20 Jahren war dies noch ausgeprägter. Die Sättel hatten einen extrem nach hinten verlegten Schwerpunkt, meistens noch in Kombination mit Trachten. Dadurch waren sie sehr lang. Mittlerweile haben sich auch die speziellen Gangpferdesättel zum Glück dahin gehend geändert, dass sie deutlich kürzer geworden sind. Allerdings ist noch immer der Schwerpunkt etwas weiter nach hinten verlegt.
Die Argumentation der Befürworter dieser Sattelmodelle lautet, dass die Pferde sich dann besser setzen und mehr aus der Schulter kommen. Ebenfalls üblich in der Szene ist, dass die Sättel deutlich weiter hinten gesattelt werden. Auch hier wird damit argumentiert, dass die Pferde sich sonst nicht frei in den Schultern bewegen können.
Die biomechanische und anatomische Sicht
Kann man dieser Argumentation aus biomechanischer und anatomischer Sicht folgen? Die Antwort ist ein klares „nein“. Auch Islandpferde und andere Gangpferde sollten das Reitergewicht im Bereich des 12. bis 15. Brustwirbels tragen! Wie auf der unten stehenden Zeichnung zu sehen ist, sind in dieser Zone die Dornfortsätze nahezu senkrecht. In diesem Bereich sollte sich der tiefste Punkt des Sattels befinden.
Vor dem 12. Brustwirbel sind die Dornfortsätze nach hinten geneigt. Ab dem 16. Brustwirbel neigen sich die Dornfortsätze nach vorne. Man kann sich gut vorstellen, dass es für das Pferd nicht angenehm ist, seinen Reiter auf den nach vorne gerichteten Dornforsätzen zu tragen.
Was bedeutet das für die Versammlung?
Was ist nun mit der Aussage, dass die Pferde sich besser setzen mit den speziellen Gangpferdesätteln, die den Schwerpunkt weiter hinten haben? Sich besser setzen, würde heißen, dass die Pferde besser ihre Hanken beugen, wenn der Reiter in diesem Bereich sitzt.
Was passiert biomechanisch beim sich versammelnden Pferd?
- Die geraden Bauchmuskeln bewirken eine Beugung des Beckens mit entsprechendem Effekt auf die drei großen Gelenke der Hinterhand (Hüfte, Knie, Sprunggelenk).
- Die Kruppe wird dadurch schräger gestellt und führt mit steigender Muskelkraft zu einer höheren Aufrichtung des Halses und Aufwölbung der Wirbelsäule im Bereich der Lende.
- Die Absenkung des Beckens und Beugung der Hanken ist nur möglich, wenn der Rücken eine entsprechende Dehnungsbereitschaft hat.
- Die drei großen Gelenke der Hinterhand (Hanken) werden passiv gebeugt.
- Die Beckenrotation erfolgt durch aktive Muskelarbeit.
Unser Pferd muss also den Rücken im Bereich der Lende aufwölben können. Dies ist nicht möglich, wenn der Reiter in diesem Bereich sitzt. Entsteht in diesem Bereich Druck, wird der Rücken nicht aufgewölbt, sondern weggedrückt.
Was hat das alles mit der Vorhandaktion zu tun?
Die angeblich vermehrt angehobene Schulter durch den weiter hinten sitzenden Reiter ist ebenfalls nicht möglich. Das mit dem nach unten weggedrückten Rücken laufende Pferd strampelt lediglich stärker mit den Schultern, während die Hinterhand abgekoppelt hinterher läuft.
Dieses Strampeln wird fälschlicherweise als Versammlung interpretiert. Die Bewegungsenergie kann nicht korrekt von hinten nach vorne durch den Pferdekörper fließen.
Fazit:
Auch Gangpferde benötigen einen Sattel mit korrektem Schwerpunkt. Dann können auch sie in der höchsten Versammlung brillieren.
Übrigens: Wie du die Versammlungsfähigkeit deines Pferdes verbessern kannst, kannst du z.B. hier und hier nachlesen.
Die Autorin:
Andrea Lipp ist IPZV Trainerin C und Autorin mehrerer Fachbücher.
Unser Ziel ist es, Pferde gesund zu reiten. Die klassische Reitweise bietet hier einen pferdefreundlichen, bewährten Weg.
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